Sumitras Geschichte: Ein metaphorischer Schrank in Bangalore

Der Schrank ist ein Raum, der sowohl sicher als auch ein Konstrukt ist, aus dem ausgebrochen werden muss. Die Aufstellung eines Schranks in einer Galerie ist ein Versuch, einen Raum zu schaffen, der Außenstehenden den Zugang zu seiner grausamen Existenz ermöglicht.

Sumitras Story

Aus unserem Dossier "Queering Memory".

Für mein Engagement mit QAMRA (Queer Archiv für Erinnerung, Reflexion und Aktivismus) in Bangalore hatte ich zwei wesentliche Gründe. Der erste Grund war die Dringlichkeit, Material über die LGBTQ+ Gemeinschaft zu präsentieren, das nicht nur Medienberichterstattung darstellt. Der zweite Grund war der Bedarf, Archivmaterial auf eine queere Weise in diesem spezifischen Kontext zu verwenden, um Menschen zu ermöglichen, den „Schrank“ (Anmerkung der Redaktion: Schrank als Metapher für einen geschlossenen, beklemmenden Raum, indem sich LGBTQ+ Menschen vor dem coming out befinden) zu betreten.

Mediale Darstellung ist ein direkter Hinweis, wie jene Gemeinschaft betrachtet wird. Sie zeigt, dass diese Menschen Selbstmorde begehen, von der Polizei zusammengeschlagen werden und eine schwierige Zeit mit dem Staat durchleben. Sie zeigt ebenfalls, dass diejenigen, die einen Zugang zu Medien haben, auch die Möglichkeit haben für Rechte zu kämpfen.

Die Art und Weise, wie Archivmaterial verstanden und ausgestellt wird, nimmt üblicherweise eine sehr traditionelle Form an. Dabei werden Texte und Bilder als lesbare Reproduktionen in einer Umgebung aufgestellt, die die Atmosphäre einer entspannten§ Bibliothek oder eines Lesesaals schafft. Aber die Installation Sie glauben also den Schrank zu kennen?“ hat die möglichen Verwendungsweisen von Archivmaterial vorangetrieben. Was also ein Archiv tut, ist es, die Bedeutung von Erinnerung und Geschichte einer bestimmten Identität zu verorten.

Queere Archive dokumentieren zwangsläufig Oral Histories, Bilder und aufgezeichnete Geschichte der LGBTQ+ Gemeinschaft.

Diese Installation war darauf ausgerichtet, Menschen einzubinden, sie mit einer bestimmten Art von Unbehagen zu konfrontieren. Das ausgestellte Material wurde außerdem anhand einer sorgfältigen Prüfung des verfügbaren Materials ausgewählt, nämlich der Erfahrungsberichte von Lesben und Transgenderpersonen, die Belästigung durch Polizeiangehörige bezeugen.

Die Installation war eigentlich ziemlich einfach. Ein Tisch, ähnlich einem Tisch in einem Vernehmungsraum, auf dem sich zwei Bände befanden. Die Bände enthielten Bilder und Schnipsel aus Zeitungen, die dokumentieren, wie über Leben und Todesfälle von queeren Menschen berichtet wurde. Sie berichteten ebenfalls über den Missbrauch von Transgenderpersonen und die Gewalt, die gegen diese verübt worden ist. Sie erzählten über Selbstmorde, die später als Ehrenmorde verstanden wurden. All das auf einem Tisch, mit einem einzigen Stuhl. Eine Lampe baumelte über dem Tisch und warf Licht darauf. Nur jeweils eine Person konnte hereinkommen. Hinter dem Tisch lief auf der Wand ein Text, der wiederum Auszüge über die Folter durch die Polizei zeigte und Aussagen zum Kampf um die Entkriminalisierung des Paragraphen 377 aus dem Indischen Strafgesetzbuch.

Das ausgestellte Material, das in Ordnern auf dem Tisch lag, enthielt sowohl vervielfältigte Zeitungsausschnitte als auch Texte aus unterschiedlichen Dokumenten und Aufzeichnungen. Für den Großteil des Materials war eine Trigger-Warnung notwendig und wurde mit einem kuratorischem Hinweis versehen. Durch meine persönlichen Erfahrungen mit Trigger-Geschichten durch Selbstmord und Belästigung, war die Forschungsarbeit zu diesem Projekt für mich überaus schwierig. Und das oberste Ziel war es, den Menschen zu zeigen, dass noch sehr viel mehr Arbeit geleistet werden muss, wenn nur diese Materialschnipsel so sehr zum Denken anregen können.

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Sumitra Sunder

Sumitra Sunder ist eine unabhängige Kunstkuratorin und Forscherin, die seit über 10 Jahren in diesem Bereich arbeitet. Sie hat Projekte in Indien kuratiert und dabei in erster Linie mit Archivmaterial gearbeitet. Mit ihrer kuratorischen Praxis behandelt und problematisiert sie sowohl das Verständnis des Queerens der Kunstpraxis, als auch mit Queerness als Identität. Ihre Forschungsarbeit hat zu einer Doktorarbeit über das Kuratieren zeitgenössischer Kunst geführt, betrachtet durch das Objektiv der Kunstgeschichte und feministischer Ansätze. Für ihre Forschung und ihre kuratorische Arbeit wurden ihr unterschiedliche Stipendien vergeben, einschließlich eines Stipendiums des National Institute of Advanced Studies, womit ihre Forschungsarbeit im Rahmen ihrer Dissertation unterstützt wurde, und Stipendien der Kochi Biennale Foundation und der Khoj International Artists Association für ihre kuratorische Arbeit. Gegenwärtig ist Sumitra’s Arbeit in der Untersuchung von Geschichte und Gedächtnis durch Archivierungspraktiken verankert, sowie in der Erschaffung eines Rahmens für das Ausstellen und Erschaffen queerer Kunst. Derzeit lebt und arbeitet sie in Bangalore, Indien.

 

Was ich mit diesem Archivmaterial getan habe, war es, die Menschen in eine Kunstgalerie einzuladen, um den „metaphorischen Schrank“ zu erleben.

Der Schrank ist ein Raum, der sowohl sicher ist, als auch ein Schauplatz von Traumata und ein Konstrukt, aus dem herausgebrochen werden, muss’. Vielmals ist er auch ein Kaleidoskop all dieser Dinge. Für eine queere Person ist der Schrank ebenfalls vertraut. Das Bedürfnis, sich zu outen’ ist ebenfalls bekannt und ist oft eine Frage des Privilegs.

Ähnlich wie dies die Kunstgalerien und Museen tun, befreit es das Objekt – sprich den Schrank – von seiner politischen und kulturellen Bedeutung. Aber es verstärkt ebenfalls die Vorstellung darüber, im Schrank zu sitzen. Ich problematisiere sowohl die Idee des Schranks, als auch die Anordnung des Archivmaterials in der Galerie, innerhalb des Schranks. Durch die Verwendung von Archivmaterial zieht man die Aufmerksamkeit auf verschiedene Tatsachen, die Erfahrung des Im-Schrank-Sitzens verstärkt das Einfühlen ebenfalls. Die Kombination aus den Dokumenten auf dem Tisch und

das Eintauchen in die Dunkelheit des Schrankes, während man daran erinnert wird, dass der Staat dein Schlafzimmer im Blick behält, sind alles Elemente, die diesen Schrank real machen. Der Schrank ist ein grausamer Raum. Es ist für queere Personen natürlich geworden, diesen Raum zu bewohnen, der ihnen überhaupt keine Freiheit auf Meinungsäußerung gewährt. Durch das Unterbringen des Schranks in der Galerie versuche ich, einen kleinen Raum zu erschaffen, der den Eintritt in die grausame Welt des Schranks gewährt.

Künstlerische Interpretationen von Archivmaterial bringen neues Publikum. Das Publikum liest nicht nur Material oder wird bloß über die LGBTQ+ Gemeinschaft „aufgeklärt“. Es wird in die von queeren Menschen bewohnte Welt eingeladen. Die von mir erschaffene Installation ist ebenfalls ein Spin der Vorstellung vom Schrank.

Aus unserem Dossier "Queering Memory".